Mitte Mai in einem Rebberg. Ein sperlingsgrosser Vogel setzt sich auf einen Rebpfosten. Auffällig sind seine rote Stirn und die blutrote Farbe der Brust, die sich vom grauen Kopf und dem braunen Rückengefieder abheben und von dem sich sein Name „Bluthänfling“ ableitet. Oft wird er aber auch nur als Hänfling bezeichnet. Dieses prachtvolle Kleid haben die Bluthänfling-Männchen jedoch nur zur Brutzeit. Im Winter sind sie unscheinbar braun gefärbt und ähneln damit den Weibchen (s. Bild) mit gesprenkelter Unterseite und braungrauem Kopf.
Nun setzt unser Männchen zu seinem abwechslungsreichen Gesang aus Trillern unterschiedlicher Tonhöhe, Pfiffen und abfallenden Tönen an. https://www.xeno-canto.org/570207. Bluthänflinge sind sogenannte Wartensänger. Sie sitzen auf einer möglichst hohen Sitzwarte und sträuben dabei ihre Brustfedern, damit ihre rote Farbe weitherum sichtbar ist. Mit ihrer „Performance“ locken sie Weibchen an und zeigen sich ihnen optisch wie akustisch von der besten Seite. Sie machen aber damit auch anderen Männchen klar, wer hier „der Boss“ ist. Wenn sich diese davon nicht beeindrucken lassen, kann es zu Kämpfen kommen, bei denen die Kontrahenten gegeneinander gerichtet hoch in die Luft steigen. Erst wenn eines der Männchen das Weite sucht, ist der Revieranspruch geklärt.
Abgesehen von diesen Streitereien während der Balzzeit, sind Hänflinge friedfertige und gesellige Vögel. Sie brüten meist in Gruppen zusammen, gehen gemeinsam auf Nahrungssuche und nutzen gemeinsame Schlafplätze. Im Herbst sammeln sie sich zu grösseren Verbänden von oft mehreren Hundert Vögeln, welche auf Sonnenblumenfeldern, abgeernteten Raps- und Getreidefeldern Nahrung finden. Im Winter sind sie häufig mit Feldsperlingen, anderen Finkenarten und Goldammern in Rebbergen unterwegs, wo sie die verblühten Streifen zwischen den Rebreihen als Nahrungsquelle nutzen.
Bluthänflinge sind oft in Rebbergen anzutreffen, es ist aber nicht ihr einziger Lebensraum. Man findet sie in Landwirtschaftsflächen mit einem gewissen Heckenanteil, auf Ruderalflächen* wie Kiesgruben, Industriebrachen usw. sowie in Gärten und Parkanlagen. Generell lieben sie halboffene mit Hecken, Sträuchern und niedrigen Nadelbäumen bewachsene Flächen mit möglichst vielen Samenkräutern, denn Samen und Getreidekörner sind die Hauptnahrung der Hänflinge. Daraus leiten sich sowohl der deutsche wie der wissenschaftliche Name ab: Cannabina (Cannabis) bedeutet Hanf und ist eine der vielen Samenpflanzen, die der Hänfling als Nahrung schätzt.
Die meisten samenfressenden Vogelarten wie Ammern und Finken – der Hänfling gehört zur Familie der Finkenvögel – ziehen ihren Nachwuchs mit proteinreicher Insektennahrung auf. Erst ab einem gewissen Alter stellen sie auf die „vegetarische Kost“ um. Nicht so die Hänflinge, sie füttern ihre Jungen von Anfang an mit Sämereien. Dabei sammelt das Männchen das Futter in seinem Kropf und übergibt es dem Weibchen, welches es an die Küken weiterverfüttert. Für diese Nahrung werden häufig auch Getreidekörner im Stadium der Milchreife verwendet, also solche, die erst halb ausgereift und noch weich sind. Bei der herkömmlichen Anbaumethode von Hafer als Sommergetreide stimmt dieses Reifestadium genau mit der Brutzeit der Hänflinge überein. Mit der zunehmenden Umstellung von Sommer- auf Wintergetreide** verschiebt sich jedoch der Zeitpunkt dieses Reifestadiums, so dass er ausserhalb der Fütterungszeit der Vögel liegt – sie können somit diese wertvolle Futterquelle nicht mehr nutzen.
In anderen Bereichen haben sich die Vögel clever an heutige Verhältnisse angepasst, beispielsweise bei der Wahl des Brutplatzes. Hänflinge brüten bodennah, sie bauen ihr Nest in Nadelgebüschen wie Eibe und Wacholder oder in dornen-bewehrten Sträuchern wie Weissdorn, Stechginster, etc. Das kompakte Nest aus kleinen Zweigen, Halmen, feinen Wurzeln und Moos wird mit Federn und Haaren gut ausgepolstert.
Hänflinge haben ein grosses Verbreitungsgebiet. Sie kommen von der Nordküste Afrikas über West- und Mitteleuropa bis Südskandinavien und Zentralasien vor. In Deutschland ist die Art recht verbreitet und mit ca. 200‘000 Brutpaaren noch relativ häufig. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bestände seit 1990 um über die Hälfte zurückgegangen sind und der Hänfling in Deutschland zu den am stärksten schwindenden Arten zählt. In der Schweiz sind die Zahlen mit rund 30‘000 Brutpaaren seit 1990 stabil, wobei die Bestände in Berggegenden und Rebbaugebieten eher noch zugenommen haben. Die Gründe für die Bestandsabnahmen liegen in der Vernichtung von Wildkräutern auf landwirtschaftlichen Nutzflächen sowie der Abnahme von Brachland im Rahmen der Intensivierung der Landwirtschaft. Mit dem Anlegen von Buntbrachen und blühenden Ackerrandstreifen wird in den letzten Jahren versucht, den Hänflingen sowie auch anderen Kulturland-Vogelarten zu helfen – doch das sind, verglichen mit den grossflächigen Veränderungen, meist nur „Tropfen auf den heissen Stein“.
Die ausführliche Dokumentation zum heutigen Vogel des Monats für den Unterricht finden Sie hier: archive Bluthänfling (4.38 MB) .
Ich danke Edith und Beni Herzog herzlich für die interessanten Informationen und die wunderbaren Fotos sowie die Audio-Aufnahmen. Auf ihrer Webseite benifotos.ch sind die Bilder grösser und noch prächtiger zu sehen.
Zielgruppe: 3. - 6. Klasse
Bezug Lehrplan 21: NMG 2.1 NMG 2.3 NMG 2.4 NMG.2.6